Das Individuum und seine Art

Die Walfangsaison neigt sich ihrem Ende zu, Boote wurden vielleicht absichtlich versenkt, Australien verklagt vielleicht Japan, und die überlebenden Wale freuen sich vielleicht zu früh. Viele Japaner essen gerne Gewebe aus einem Delphin, viele Deutsche essen gerne Gewebe aus einem Huhn. Delphine und Hühner unterscheidet jedoch noch mehr als nur ihr jeweiliger Lebensraum und die Nahrungspräferenzen zweier Kulturkreise.

Der „Internationale Gerichtshof für Tierrechte“ der Fondation Franz Weber verurteilte am 22. Februar in Genf die Vertreter der Fischereiministerien verschiedener Länder wegen grausamen Massakers an Individuen bestimmter Spezies. Dabei handelt es sich um über 2000 Großwale und zehntausende Kleinwale (hierzu zählen die Delphine) jährlich.

Das 1986 verhängte Moratorium gegen den Walfang erlaubt Fänge ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken. Die Ermordung von Walen primär aus Profit- und sekundär aus Genussgründen ist offensichtlich nicht akzeptabel. Die japanischen Walfänger schreiben also „Research“ auf ihre Schiffe und verdienen weiter an Walprodukten (ähnlich wie – um ein nicht völlig themenfremdes Beispiel zu wählen – diejenigen Fleischimporteure in der Schweiz, welche selbiges mit ein paar Pfefferkörnern versehen lassen, damit es in die günstigere Zollposition für „gewürztes Fleisch“ fällt).

Doch selbst wenn die Beteuerungen der japanischen Walproduktindustrie wahr sein sollten und jährlich mehrere hundert Wale tatsächlich zu wissenschaftlichen Zwecken getötet würden, bliebe die Frage nach der Rechtfertigung. Dürfen Exemplare einer bedrohten Tierart getötet werden, damit wir noch mehr über ihr Innenleben erfahren können?

Und damit wären wir beim Kern: Das Gericht stellt fest, dass eine „Verfolgung und Vernichtung […] systematisch und mit äusserster Grausamkeit“ stattfindet. Zwar herrscht über notwendige Grausamkeit gegenüber nichtmenschlichen Tieren generell Uneinigkeit, zumindest hierzulande wird mir die überwältigende Mehrheit aber beipflichten, wenn ich behaupte, dass Walprodukte für den modernen Menschen unnötig sind und dass der Gerichtshof für Tierrechte nur seine Pflicht tut, indem er Walfänger verurteilt, denn Wale zu töten verstößt gegen deren Recht auf Leben.

Ich behaupte allerdings weiterhin, dass wir Menschen unter anderen auch Fische, Hühner, Enten, Gänse, Schweine, Rinder, Schafe und Hasen systematisch umbringen, noch dazu einzig zu diesem Zweck überhaupt erst in die Welt setzen, und dass die Produkte, welche wir aus den Körpern dieser Tiere herstellen, ebenso unnötig sind wie die Produkte aus Walkörpern. Und auch die Gefangenhaltung lebender Rinder zur „Milcherzeugung“ ist wie die Gefangenhaltung eines Wals zur Belustigung der Menschen weder notwendig noch mit den Tierrechten vereinbar.

Warum also konzentriert sich die Weltöffentlichkeit und der Tiergerichtshof dieses Jahr auf Wale? Sein Urteil begründet das Gericht damit, dass Wale auf Angriffe nicht mit Schock oder Bewusstlosigkeit reagieren und somit „ihre Tötung bewusst bis zum letzten Atemzug“ erleben. Diese Tatsache stellt unzweifelhaft einen guten Grund dar, keine Wale zu töten. Wäre der Walfang aber dann legitim, wenn die Tiere zunächst einmal betäubt würden? Impliziert der Gerichtshof mit seiner Begründung, dass es ein kleineres tierrechtliches Problem darstellt, wenn jedes Jahr eine millionenfach höhere Anzahl anderer Meerestiere ebenso unnötigerweise getötet wird, diese Tiere jedoch zu einem Schock in der Lage sind?

Eine weiterer Punkt für das Gericht ist die Gefährdung der Wale als biologische Art. So rauben ihnen beispielsweise die Menschen allmählich die gesamte Nahrung („Überfischung“) und bilden mit ihren Netzen gleichzeitig tödliche Fallen („Beifang“). Kurz, vor allem die Großwale sind vom Aussterben bedroht. Diese Entwicklung ist in der Tat besorgniserregend, und wer Wert darauf legt, meine bescheidene Meinung zu hören: Wir sollten aufhören, Tiere aus Gewässern zu ziehen, denn es ist unnötig und bringt immense Nachteile mit sich.

Betrachten wir das Individuum und nicht die gesamte Art, dann macht es keinen Unterschied, ob wir Menschen eben jene Art als bedroht eingestuft haben oder ob wir jährlich mehrere Milliarden andere Individuen der selben Art heranzüchten. Für das Individuum selbst spielt es keine Rolle, ob wir Menschen es als niedlich, wohlschmeckend, leistungsfähig oder unterhaltsam einstufen. Das Individuum will leben, frei von Leid und räumlicher Begrenzung.

Wenn du auch glaubst, dass die Walfänger aus Japan, Norwegen und Island Unrecht tun, indem sie Wale töten, frage dich bitte, ob es nur so lange Unrecht ist, wie die Wale als Art bedroht sind, oder ob es ein moralischer Grundsatz sein könnte, der die absichtliche Tötung eines Individuums zu unnötigen Zwecken verbietet, ganz egal ob das Individuum allein im Ozean treibt oder ob es mit hunderttausend anderen in einer Halle gedrängt steht.


Veröffentlicht am 3. März 2010