Von Inzucht und Ebergeruch

Knut: Berühmtester Eisbär der Welt, von seiner Geburt im Jahr 2006 an Insasse des Berliner Zoos, von der Mutter verstoßen, unfreiwilliger Medienstar und Zuschauermagnet. Hauptzweck: Wirtschaftsfaktor.

In den Monaten, in denen Knut optimal im Sinne seiner Investoren funktionierte, verdiente die Zoologischer Garten Berlin AG sehr viel Geld an seiner Zurschaustellung. Das Individuum war süß und seine Art gefährdet, gute Voraussetzungen für das Überhören der Frage nach der moralischen Rechtmäßigkeit, mit der wir Menschen andere Tiere zu unserer Belustigung gefangenhalten.

Bis zu seinem siebten Lebensmonat wurde Knut zweimal täglich eine Stunde lang dem zahlenden Publikum und der Presse vorgeführt. Zoo und Lizenznehmer verkauften Knut-Porzellan, Knut-Bücher, Knut-Plüschbären, Knut-Puzzles, Knut-T-Shirts, Knut-Nostalgie-Schilder, Knut-Postkarten, einen Knut-Kinofilm, Knut-Poster und Knut-Fahrräder. Knut, das unschuldig eingesperrte Individuum. Beim Gewinnspiel zu Knuts erstem Geburtstag bestand der Hauptpreis aus einer einwöchigen Reise zu den in Freiheit lebenden Eisbären in der kanadischen Provinz Manitoba.

Das Individuum Knut und alle anderen Zooinsassen sind ökonomische Güter: Sie werden je nach Wirtschaftslage erzeugt, angekauft oder abgestoßen, vermarktet oder entsorgt. Damit haben sie zunächst den selben Status wie Milliarden weiterer „Nutztiere“, die ihren Nutznießern jedoch umso mehr Profit bescheren, je schneller sie die Geschlechtsreife erreichen und ihrer Menstruationsprodukte bzw. ihres Milchdrüsensekrets beraubt werden können. Von den weiteren Milliarden Individuen, die ihren Zweck dann am besten erfüllen, wenn sie auf die schnellstmögliche Weise an Gewicht zunehmen, um daraufhin schnellstmöglich vom Leben zum Tod befördert zu werden, ganz zu schweigen.

Knut ist unter den „Nutztieren“ ein Sonderfall. 168 000 Euro Sonder­aufwendungen war er dem Zoo Berlin im Jahr 2007 wert, eine rentable Anlage, denn rund 2,98 Millionen Euro Umsatzerlöse aus Eintrittsgeldern gingen 2007 allein auf Knuts Konto, dazu kamen rund 1,37 Millionen Euro für Merchandising-Artikel bzw. Lizenzeinnahmen (siehe Geschäftsbericht 2007). Zum Vergleich: Ein Ferkel kostet im Mai 2010 an der Eurex in Frankfurt 47,5 Euro, ein „Schlachtschwein“ lässt sich für einen Euro und 40 Cent pro Kilogramm verkaufen. Im Oktober 2007 wurde dem inzwischen leider verstorbenen Thomas Dörflein, Knuts „Ersatzpapa“, der Verdienstorden des Landes Berlin vom Senat verliehen, nicht für sein Einfühlungsvermögen, sondern zur Anerkennung und Würdigung seiner hervorragenden Verdienste um die Stadt.

Nun ist Knut drei Jahre alt und geschlechtsreif. Weil die Eisbärin Giovanna wegen Umbauarbeiten im Münchner Tierpark Hellabrunn vorübergehend im Berliner Zoo untergebracht wurde und die beiden offensichtlich den selben Großvater haben, befürchtete der Zoo-Experte Frank Albrecht vom Tierschutzkonzern PETA, die zwei sich sichtlich zugeneigten Eisbären könnten Inzucht treiben und ihrem potentiellen Nachwuchs damit unverantwortliche Gebrechen aufbürden. Falls Giovanna nicht bald wieder von Knut getrennt würde, sollte Knut kastriert werden.

Der Aufschrei der Tierliebhaber und Knut-Fans folgte prompt: Nach Albrechts Angaben erhielt er Anrufe, unter anderem mit dem Vorschlag, er solle sich zuerst selbst kastrieren. Knut ist zwar lange nicht mehr so medienwirksam wie früher, aber allein die Anregung seiner Kastration löst ein weltweites Medienecho aus.

In Deutschland bleibt es bei jährlich ca. 25 Millionen Schweinen nicht bei der Anregung. Die Anästhesie ist teuer und kostet Zeit, deshalb ist es erlaubt, Ferkel bis zu ihrem siebten Lebenstag ohne Betäubung zu kastrieren. Notwendig wären diese Eingriffe nicht, aber der geringe Prozentsatz der männlichen Schweine, die vor der „Schlachtreife“ geschlechtsreif werden, entwickelt sonst den vom Verbraucher nicht gewünschten „Ebergeruch“ in seinem Gewebe.

Sehr viele Menschen sind demnach mehr oder weniger empört über den Vorschlag, ein einzelnes Individuum zu kastrieren, tragen aber gleichzeitig die Verantwortung an der Kastration vieler anderer Individuen. Das mag einerseits daran liegen, dass den meisten Verbrauchern der Herstellungsprozess von „Schweinefleisch“ nur unzureichend bekannt ist, andererseits daran, dass es sich dabei nur um ein paar Schweine von vielen handelt und nicht um den Eisbären aller Eisbären.

Wir Menschen haben Bären und Vertreter Hunderter anderer Spezies domestiziert und halten sie in Wohnungen, Ställen, Hallen, Gehegen, Terrarien und Aquarien. Diese Tiere wachsen in artfremder Umgebung auf, entwickeln artfremde Verhaltensweisen und stellen uns vor Probleme, welche ohne Domestizierung nicht existieren würden. Je nach Tierart reagieren wir emotional auf ethisch relevante Fragen (Kastration oder Inzucht?) oder dulden ungerührt millionenfaches Leid infolge unnötiger Praktiken innerhalb unnötiger Produktionsprozesse.


Veröffentlicht am 9. März 2010