„Der Mensch steht an der Spitze der Nahrungskette.“

Tiger in Schneelandschaft

Die Behauptung, wir befänden uns uns heute an der Spitze der Nahrungskette, ist gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass wir heute in der Lage sind, alle anderen Arten auf dem Planeten zu unterdrücken und auszubeuten. Das mag den Tatsachen entsprechen, hat aber keinerlei Bedeutung für die Klärung ethischer Fragen. Die alleinige Fähigkeit zur Ausbeutung Schwächerer liefert keine Rechtfertigung dafür.

Darüber hinaus gibt es schlicht kein singuläres System, welches als „die Nahrungskette“ bezeichnet werden kann, und der Mensch steht nicht auf der höchsten trophischen Ebene, weder „naturgemäß“ noch nachdem er sich dorthin „hochgekämpft“ hat. „Die Nahrungskette“ ist eine Abstraktion, mit welcher die energetischen und stofflichen Beziehungen dargestellt werden, die zwischen verschiedenen Gruppen von Organismen bestehen, wobei die eine Gruppe jeweils die Nährstoffgrundlage einer anderen bildet. In realen Ökosystemen sind kettenförmige Beziehungen dieser Art äußerst selten, dennoch sind mehrere davon bekannt. Stellen wir uns einen Tiefsee-Beilfisch und einen Alpensteinbock vor; obwohl beide in einer trophischen Beziehung zu anderen Organismen stehen müssen, kann es sich dabei nicht um ein und dasselbe System handeln.

Die Annahme, es gäbe nur diese eine Nahrungskette (optional mit dem Menschen an deren Ende) ist nicht nur wegen der Größe unseres Planeten und der Vielzahl an unterschiedlichen Ökosystemen und darin enthaltenen Lebensformen unrealistisch. Der weitaus größte Teil aller trophischen Beziehungen hat keine lineare, sondern eine netzförmige und – was die Besetzung der untersten, mittleren und obersten Niveaus sowie die Größe des Netzes betrifft – variable Ausgestaltung. Obwohl feststeht, dass die Bezeichnung Nahrungsnetze die Wirklichkeit genauer beschreibt, bleibt die definitive Einordnung bestimmter Arten schwierig, da diese Netze in ihrer Verzweigtheit äußerst komplex sind und die Beziehungen zwischen sich voneinander ernährenden Organismen je nach Zeitpunkt und geografischer Gegebenheit verschieden sein können.

Zum Beispiel hat sich der Mensch als biologische Art – begünstigt durch seine herausragende Intelligenz – Mittel und Wege geschaffen, andere Tiere zu dominieren. Ohne Werkzeuge, also nur mit Zähnen und Fingernägeln „bewaffnet“, hätte ein Mensch enorme Schwierigkeiten, ein Rind oder ein Schwein zu töten und zu verzehren. Innerhalb des Nahrungsnetzes haben sich zu diesem Zeitpunkt aus genannten Gründen also einige Knoten verschoben.

Der Mensch ist demnach in der Lage, sich seinen gegenwärtigen technischen Mitteln entsprechend fast immer auf dem höchsten Niveaus in allen gegebenen Nahrungsnetzen zu halten. Sollte sich jedoch einmal durch einen Zufall ein unbewaffneter hungriger Mensch in Gesellschaft eines unbewaffneten hungrigen Eisbären (oder Weißen Hais, Tigers oder Wolfs) wiederfinden, wird er – selbstverständlich nur als Ausnahme von der Regel – seine Spitzenposition kurzfristig abgeben müssen. Der Umstand, dass beispielsweise ein Hai von seinen Waffen gegenüber einem Menschen Gebrauch macht wird jedoch im Allgemeinen nicht als natürlicher Akt zur Selbsterhaltung innerhalb eines Nahrungsnetzes sondern als „tragischer (Hai-)Unfall“ bezeichnet.