Ist es nicht außerordentlich schwierig, vegan zu leben?

Person blickt eine Kletterwand hinauf

Aus praktischer Sicht erweist sich die weit verbreitete Vorstellung vom „schwierigen Vegansein“ kurzerhand als falsch. Der Eindruck, vegan lebende Menschen hätten nur sehr wenig Essbares zur Auswahl und müssten alle Gebrauchsgegenstände von den Schuhen bis zum Waschmittel umständlich und teuer im Spezialversandhandel ordern, entspricht nicht der Realität.

Für Mitteleuropäer, die ein wenig die Augen offenhalten, finden sich genug vegane Nahrungsmittel, selbst wenn wir pflanzliche Milch, Fleisch-, Fisch- und Wurstimitationen oder die veganen Versionen von Käse, Eis, Sahne, Joghurt oder Milchschokolade, Dessertcremes oder Torten einmal außer Acht lassen. Wer über zwei oder drei Kochbücher oder einen Internetzugang verfügt, wird beim Versuch, ein ganzes Jahr lang täglich ein anderes veganes Hauptgericht auszuprobieren, gewiss nicht in Schwierigkeiten geraten.

Früchte, Gemüse, Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen lassen sich fast überall leicht finden, und verarbeitete vegane Nahrungsmittel oder Fertiggerichte sind so verbreitet wie nie zuvor. Wer nur ein wenig genauer als bisher hinsieht oder nachfragt, findet eine Fülle von veganen Grundnahrungsmitteln, Backwaren, Snacks, Brotbelägen und -aufstrichen, Konserven, Frühstückszutaten oder Süßigkeiten. Davon abgesehen können wir uns ansehnlich und funktionell bekleiden, ohne auf die Haut oder die Haare toter Tiere angewiesen zu sein. Ebenso sind wir keinesfalls gezwungen, Haushalts- oder Kosmetikartikel zu verwenden, deren Inhaltsstoffe aus den Körpern von Tieren bestehen oder an ihnen getestet wurden; es gehört nicht mehr dazu als sich zu informieren und dann statt dem Produkt X das Produkt Y zu kaufen.

Aus gesellschaftlicher Sicht kann es anfangs etwas unbehaglich oder unbequem sein, sein Leben einem so grundlegenden Wandel zu unterziehen, dessen Gründe viele Mitmenschen eventuell überhaupt nicht nachvollziehen können. Nach einiger Zeit jedoch lässt sich mit Hilfe der täglich größer werdenden Erfahrung jede Situation überschauen, auch wenn manchmal dazugehört, sich geduldig zu erklären, Vorurteile auszuräumen und seine eigenen Kekse mitzubringen. Alle gängigen Schwierigkeiten, welche eine vegane Lebensweise mit sich bringen könnte – wie das Ablehnen des Stücks Torte auf Geburtstagsfeiern, das regelmäßige Beantworten von „Wo bekommst du dein Eiweiß her?“-Fragen oder das bedrückende Gefühl des Zuviel-Wissens beim Anblick grasender Kühe – werden ausnahmslos vom sozialen Umfeld geschaffen; sie sind keine Probleme, welche dem Veganismus an sich innewohnen.

Die größte Schwierigkeit liegt vielleicht im Umgang mit Mitmenschen, welche gleichzeitig alles und nichts über die Risiken einer veganen Ernährung zu wissen scheinen, welche »nur Bio- und nur ganz wenig« Fleisch, Milch und Eier konsumieren und gleichzeitig Döner Kebab, Tiefkühlpizza und Fertigkuchen, und welche alle Tiere „respektieren“ und gleichzeitig überhaupt nicht.

Es fällt dir vermutlich auch nicht leicht, mit dem Wissen von der täglichen unnötigen Brutalität umzugehen und mit der Gleichgültigkeit der Auftragsmörder, welche nichts von Mord hören wollen. Doch wie mühsam ist es, täglich vor sich selbst mit Ausreden aufwarten zu müssen dafür, dass sie Unschuldigen vermeidbare Gewalt antun, es zu leugnen, zu versuchen, nicht über die Konsequenzen des eigenen Handelns nachzudenken, oder sich unablässig gegen die zweifellos berechtigten Einwände ihres Gewissens zu wehren.

Die wahren Motive vieler Menschen, welche gern ein „… aber es ist so schwer!“ vorschieben, sehen oft so aus: Sie möchten an der Idee festhalten, Veganismus sei unmöglich, um weiterhin in ihrer physischen oder psychischen Abhängigkeit von Tierprodukten verbleiben zu können. Sie möchten glauben, dass sie bereits so viel tun wie sie nur irgendwie können, um sich nicht selbst dem Vorwurf aussetzen zu müssen, nicht genug zu tun. Sie nehmen die Unterdrückung und die Rechte der Tiere nicht wirklich ernst, denn alte Gewohnheiten aufzugeben macht Angst, und das Gewissen zu beruhigen erscheint vordergründig einfacher.

In Wirklichkeit jedoch ist Veganismus offensichtlich (und sehr einfach) möglich. Wer noch nicht vegan lebt, sich aber mit dem Thema beschäftigt, wird das Wissen um diese Möglichkeit, „mehr für die Tiere tun“ zu können, nie mehr ausblenden können. Der „Verzicht“ oder die dafür zu bringenden „Opfer“ entpuppen sich vielmehr als Befreiung, als Raum für Neues, als die Angelpunkte, an denen ethische Werte und eigenes Handeln endlich im Einklang stehen.